Ganz ehrlich? Stöcke sind zum Hauen da, oder?

Also – mein Pferd Gamaal ist ein Rennpferd im Geiste. Wahrscheinlich kam er nicht als Rennpferd auf die Welt, sondern wurde es erst, als er bei uns war. Das liegt daran, dass meine Tochter und ihre beste Freundin – ganz im Sinne von Bibi und Tina, nur nicht auf Amadeus und Sabrina, sondern auf Karo und Gamaal – früher gern um die Wette galoppiert sind. Nicht in der Wüste, wo die Araber das eigentlich sonst immer tun, sondern im Wäldchen hinter unserem damaligen Stall in Essen-Altenessen oder über die Trainingsstrecke der Trabrennbahn auf der Halde in Gelsenkirchen. Schnell hingeritten, auf den Sandweg eingebogen und dann – gib ihm: bergrauf, gerade, um die steile Kurve, dann wieder ein langes Stück geradeaus und dann – bremssssss – steil bergab.

Ich bin sicher, die Pferde konnten am Ende auch steil bergab galoppieren. Aber ich schwör, ich will das gar nicht wissen.

Ich weiß aber ganz genau, dass ich mein Pferd bis vor ungefähr vier Jahren nicht aus dem Galopp anhalten konnte. Gar nicht. Nicht durch Zügel, nicht durch Sitz und schon gar nicht durch gutes Zureden. Rennen war einfach ein Zustand, den Gamaal super fand und der ihm von allen Gangarten am allermeisten zusagte. Wenn wir allein unterwegs waren, ging es noch einigermaßen, aber zu zweit oder in der Gruppe war an kontrolliertes Galoppieren nicht zu denken.

HORROR…

Als ich anfing, alles über das partnerschaftliche Zusammensein mit den Pferden zu lernen, unterschiedliche Kurse besuchte und das Konzept des Natural Horsemanship zu verstehen begann, lernte ich auch den Umgang mit dem Stick. Ich weiß noch, was ich dachte, als ich zum allerersten Mal Leute auf einem Pferd sitzen sah, die ohne Zaumzeug und Zügel, nur mit einem Stick in der Hand, auf ihren Pferden ritten.

Ich dachte nämlich: „Bor, wie panne.“

Und ich weiß auch noch, was alle Reiterinnen¸ Stallkolleginnen und -feindinnen in meinem damaligen Pensionsstall (Dressur) in Altenessen dachten und sagten, als sie mich dann mit dem Stick reiten sahen: „Bor, total panne.“ Aber ich hatte ja immer schon andere Sachen gemacht als die meisten Leute, die mit Ausbindern, Dreieckszügeln oder Schlaufis mit ihren Pferden durch die Bahn geritten sind. Deshalb fand ich das nicht so schlimm.

Deutlich schlimmer war eine Situation auf eben derselben Trabertrainingsbahn in Gelsenkirchen, zwei Jahre später, als ich mit meiner Stallfreundin Sabrina nach einem recht kontrollierten Galopp (Tendenz positiv) den steil bergab führenden Weg zurück geritten bin. Den wollte Gamaal dann bitte doch auch noch im Galopp nehmen. Zack, Schalter umgelegt auf nicht ansprechbar. Damit ich nicht ständig am Zügel ziehen musste (sanfte Einwirkungen, Zureden, Sitz hatten null Wirkung – ein Déjà-vu sozusagen), ließ ich ihn seitwärts bergab gehen und begrenzte seine Schulter mit dem Stick, in dem ich immer wieder die 4 Phasen durchlief. Das führte dazu, dass er zwar nicht mehr galoppierte, seine Gangart aber mindestens seitwärts irgendwo zwischen Trab und Stolpern einzuordnen war. Und ich gebe zu, ich war RICHTIG angenervt.

Auf dem Trabergelände nebenan führte eine junge Frau ein über die Schulter in sie reindrängelndes Trabrennpferd und rief mir zu: „Jau, wenn man schon nicht reiten kann, dann is‘ ja gut wenn man nen Stock hat, dann kann man sein Pferd wenigstens hauen.“ Das hat mir tatsächlich die Sprache verschlagen, was eigentlich eher selten passiert. Klar ist, ich wäre besser abgestiegen. Es hätte sicher andere Lösungsstrategien gegeben.

Heute kann ich Gamaal auch in einer Gruppe kontrolliert galoppieren. Und bergab gehen wir immer Schritt. Aber mein Stick ist mir immer noch eine große Hilfe, und ich liebe seine vielfältigen Einsatzmöglichkeiten.

Hier sind die versprochenen 5 Gründe, warum ich ihn benutze:

1. Zum Streicheln.

Hat mal jemand versucht, sein Pferd an der Kruppe zu streicheln, während er am Kopf steht? Umpf, Arm zu kurz. Mit dem Stick geht das aber gut. Der verlängert meinen Arm, und ich kann genau die Stelle streicheln, die mein Pony super toll findet, ohne mich zu bewegen. Das macht immer großen Eindruck auf die Pferde 🙂
Oder ich möchte meinem Gamaali mit einer Berührung sagen, dass ich ihn toll finde, obwohl ich zwei Meter von ihm entfernt stehe. Mit dem Stick und dem Seilchen kann ich ihn ganz zärtlich umarmen, ohne mich von der Stelle zu bewegen. Super ist, dass mein Pferd dabei registriert, wie groß meine Reichweite ist. Außerdem bekommt es seine positive Verstärkung genau im richtigen Moment.

2. Zum Richtungsweisen.

Ich reite gern auch mal ohne Zaumzeug auf dem Platz oder auf unserer Bahn. Letzte Woche hatte ich allerdings meine Trense wirklich vergessen, als wir zum Ausreiten in die Haard nach Recklinghausen gefahren sind. Mist, hab ich gedacht, aber Zurückfahren war irgendwie auch keine Option. Wir sind dann einfach oben ohne los. Mein Stick war natürlich dabei. Gamaal war total motiviert und ein toller Partner während der zweieinhalb Stunden. Da habe ich wieder gemerkt, wie lange wir unseren Weg schon gemeinsam gehen und wie weit wir gekommen sind!

(Generell ist das Ausreiten ohne Zaumzeug versicherungstechnisch oft nicht unproblematisch. Deshalb ist es UNBEDINGT nötig, sich vorher zu erkundigen, ob die eigene Versicherung diese Situation abdeckt!)

Wenn mein Pony mal nicht auf meine Sitz- und Körperhilfen reagiert (weil es vielleicht einen schlechten Tag hat?), kann ich ihm sanft mit dem Stick die Richtung vorgeben. Das funktioniert wie das Neck Reining beim Westernreiten oder wie der seitwärts treibende Schenkel beim Dressurreiten: Zügel oder Stick oder Schenkel anlegen, und das Pferd weicht in die Richtung, die mein Körper ihm signalisiert. Es macht wirklich Spaß, das Reiten ohne Zügel auszuprobieren. Aber weil die Sicherheit immer vorgeht, empfehle ich dazu grundsätzlich geschlossene Reitplätze oder Hallen!

3. Zum Desensibilisieren.

Ich konnte meinen Karo-Fuchsi am Anfang ganz lange Zeit nicht an den Hinterbeinen anfassen, weil er extrem unsicher war und bei jeder Berührung ausgeschlagen hat. Das war teilweise ganz schön gefährlich und hat mir einen Muskelfaserriss am Oberschenkel und viele blaue Flecken beschert. Mit dem Stick und dem Konzept von Annäherung und Rückzug haben wir ihm später gezeigt, dass er Berührung aushalten kann. Entspannend fürs Pferd und richtig gut auch für den Hufschmied…

4. Um mich und mein Pferd zu schützen.

Warst du schon mal auf dem Paddock oder der Weide, um dein Pferd reinzuholen, und es stehen 10 Pferde am Tor, eng gedrängt, und du kommst nicht durch? Keine seltene Situation, oder? Unangenehm und manchmal wirklich gefährlich. Wir sind nämlich nicht so groß wie Pferde, nicht so schnell und vor allem nicht so stark. Gut wäre es ja jetzt, wenn die anderen Pferde mich durchlassen oder sogar den Platz vor dem Tor räumen würden. Ich hab deshalb immer einen Stick dabei.

Der Stick ist ein stabiler, wehrhafter Stab aus Fieberglas und liegt durch seinen Gummigriff gut in der Hand. Man kann damit seine Individualzone deutlich machen und den Raum für einen sicheren Abstand fordern. Meistens reicht es schon, wenn ich mit dem Stick auf den Boden klopfe oder mit Stick und Seilchen durch die Luft schwinge. Manchmal ist es nötig, ein Pferd an der Brust oder an der Schulter leicht zu berühren, damit es aus dem Weg geht.

Und am Ende fühlt mein Pferd sich sicher und gut bei mir aufgehoben, wenn ich es, ohne dass wir von den anderen bedrängt werden, aus dem Tor führe.

5. Zum Mut machen.

Kennst du das: Du reitest in der Halle, denkst an nichts Böses, und plötzlich zieht ein Reiter, kurz bevor er aufsteigt, mit einem Ruck die Steigbügel seines Pferdes runter. Es knallt und alle Pferde machen einen Satz, vielleicht sogar der ein oder andere Reiter auch – Richtung Hallenboden.

Während meiner PartnerschaftsSeminare gebe ich gern meine Erfahrung weiter. Deshalb finden es meine Leute super, wenn sie ihren Pferden mit dem Stick zeigen können, dass Geräusche und Bewegungen um sie herum nicht furchtbar sind. Am Ende bleiben alle Pferde ganz ruhig auf ihren Plätzen stehen, während ihre Menschen mit Stick und Seilchen schwingend drum herumgehen. Oder wir machen Geräusche, indem wir mit dem Stick gegen Banden, Bäume oder Büsche oder auf den Boden schlagen.

AHAAA – Stöcke sind also doch zum Hauen da 😉

Es ist hier wieder das Prinzip von Annäherung und Rückzug gefragt. Ich verwende dieses Training auch als Vorbereitung für Gelassenheitsprüfungen. Außerdem finde ich es sowieso toll, wenn alle mutige, unerschrockene Pferde haben, mit denen man gefahrlos ausreiten kann, die nicht bei jeder Kleinigkeit einen Satz machen! Das hat ja was mit guter Partnerschaft zu tun, oder?

Allerdings sind wir rücksichtsvoller als besagter Reiter oben und machen diese Übungen selbstverständlich nicht, wenn andere Pferde und Reiter in der Nähe sind.

Sind ja nicht alle so mutig wie unsere…